Stenopelix Steinalt

Auf dieser alten Alm inmitten der Berge nicht weit von der Sommernachtsbucht entfernt wohnte das letzte verbliebene Familienmitglied der Familie Steinalt.

Hier war sie: Stenopelix Steinalt. Und sie machte ihrem Namen alle Ehre, war wirklich nicht mehr die Jüngste. Aber noch sehr fit! Das Leben auf der abgeschiedenen Alm hatte sie zäh gemacht, die ganzen Entbehrungen, die sie ein Leben lang erdulden musste, waren ihr Lebenselixier.

Natürlich wussten das auch die Sommernachtsbuchter, die sie kannten und für ihren Elan sehr schätzten.

 

Doch was niemand wusste, was ihr größtes Geheimnis war, kam durch das beherzte Treten auf diese Steinplatte zum Vorschein. Normalerweise gut versteckt unter ihrem altersschwachen Bett, konnte diese Steinplatte niemand finden.

Und wenn sie darauf trat, passierte etwas ganz Außergewöhnliches.

Ein von ihr selbst entworfener Mechanismus ließ eine Treppe zum Vorschein kommen, die auf der Wiese ein paar Meter vom Haus entfernt tief in die Erde führte.

Und dort unten befanden sich Stenopelix` geheime Räume, die sie zur Aufklärung von Straftaten benutzte. Sie war nämlich nichts anderes als eine sehr gute Ermittlerin!

 

Doch das war ihr Geheimnis, nur die Arbeitgeber und ein paar Leute von der Polizei wussten davon. So konnte sie völlig inkognito arbeiten, denn wer vermutete hinter ihrer Bäuerinnenfassade schon eine gewiefte Detektivin? Genau das war es auch, was an ihr geschätzt wurde und weshalb sie immer viele Aufträge bekam. Langeweile kannte sie beim besten Willen nicht.

Und auch jetzt gab es wieder Arbeit für sie, diesmal war sie jedoch ohne Auftrag unterwegs sondern auf eigene Faust.

 

Vor kurzem war der Mann von Ricarda Red, der großen Schauspielerin, gestorben. Ein Herzinfarkt sollte es gewesen sein, was den armen Filmemacher dahingerafft hatte. Doch Stenopelix` glaubte das nicht! Es musste Mord gewesen sein, denn im Haus der Reds befanden sich drei Gegenstände, die als Mordwaffe in Frage kamen: Eine alte Vase, eine halb verrostete Gartenschaufel und ein hässlicher Kerzenständer.

 

Natürlich hatte sie schon mit den Bewohnern gesprochen, um mehr zu erfahren. Bei Ricarda, der trauernden Witwe, war das allerdings sehr schwer gewesen, da die Frau alle paar Minuten in Ohnmacht gefallen war. Ihr Bruder Relikt machte auf Stenopelix einen verdächtigen Eindruck, versichterte aber, zum Tatzeitpunkt nicht im Hause gewesen zu sein.

 

Das alles half ihr überhaupt nicht weiter, deshalb hatte sie sich auf in die Stadt gemacht, um mehr zu erfahren.

Sie traf sich mit der Polizistin Schuldiger.

"Frau Schuldiger, ich habe von dem Fall Red gelesen. Gibt es da etwas Neues?", fragte sie harmlos. Frau Schuldiger gehörte zu den Polizisten, die nicht wussten, womit sie sich die Freizeit vertrieb.

"Ja, der Fall ist abgeschlossen und ad acta gelegt. Die Todesursache war ein Herzinfarkt", antwortete die Polizistin.

"Dann gibt es ein Gutachten?", fragte Stenopelix möglichst gelangweilt.

"Soweit ich weiß, ja", sagte die Polizistin. "Der arme Mann wollte wohl nicht länger mit dieser Diva verheiratet sein!", lachte die Polizistin kehlig und Stenopelix runzelte die Stirn. Von solchen persönlichen Aussagen in einem Fall hielt sie nichts! Deshalb verabschiedete sie sich schnell und ging in einen nahegelegenen Park, denn sie glaubte fest, dass es Mord war. Deshalb wollte sie ein bisschen die Leute beobachten.

Also machte sie sich an die Arbeit.

 

Das Beobachten von verdächtigen Individuen war ihr Spezialgebiet, wer käme auch auf die Idee, dass sich hinter diesem Busch eine Ermittlerin verbarg?

 

Doch hier schien alles ganz normal zu sein. Ein Strassenmusikant spielte und kassierte horrend viel Geld für seine Darbietung. Nichts Ungewöhnliches, wenn es in ihren Augen auch völlige Verschwendung war, sein sauer verdientes Geld einem Klampfenheini in den Rachen zu schmeißen. Aber gut, das war ja nicht verboten und sie konnte ihre Beobachtungen für heute wieder abbrechen.

Dann kam sie durch Zufall auf eine interessante Entdeckung: Ludowika van Luckner, eine holländische Sportlerin und auch schon über die Landesgrenzen bekannt, hatte gleich zwei Aufträge für sie: Zum einen hatte sie das Gefühl, beim letzten Spiel durch den Schiedrichter unfair behandelt worden zu sein, was ihrer Mannschaft den Sieg gekostet hatte, zum anderen fehlte eine ihrer Gartenschaufeln.

 

Da erinnerte sich Stenopelix doch gleich an die eine mögliche Mordwaffe im Hause Red. Lebte der Mörder hier? Dieser Kerl, der an ihr vorbeihuschte, war es vermutlich nicht, denn der war Polizist. Außerdem war er der Lebenspartner ihrer Auftraggeberin. Aber natürlich würde sie ihn trotzdem im Auge behalten, sie hatte da schon die abwegigsten Dinge in ihrer langen Laufbahn erlebt.

 

Und zumindest hatte sie jetzt mal eine Spur.

Auch diesen Herrn nahm sie sich vor. Sepp Sammel, vom Aussehen her völlig unscheinbar, war er der neue Mann an Ricardas Seite. Hatte sich die Dame da nicht schnell getröstet? War das Mordmotiv etwa schlicht gewesen, dass die Diva für einen neuen Mann frei sein musste?

 

Doch Sepp grinste die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd und machte auf sie einen recht unverdächtigen Eindruck.

"Herr Sammel, kannten sie eigentlich den verstorbenen Mann ihrer Freundin?". Er lächelte.

"Meine Freundin.... sie ist tatsächlich meine Freundin! Gerade ich! Ich habe sie bekommen!". Dann wurde er wieder ernster. "Entschuldigung, wie war die Frage?". Stenopelix wiederholte die Frage noch einmal und seufzte innerlich auf. Verliebtes Gesindel! Neben Betrunkenen die am schwersten zu befragende Personengruppe überhaupt!

"Nein, ich kannte ihn nicht. Ich habe Ricarda erst nach seinem Tod kennengelernt", antwortete er diesmal etwas klarer im Kopf.

"Aha", machte Stenopelix und überlegte sich schnell eine Fangfrage. "Können sie mir vielleicht sagen, wann The Simser Geburtstag hatte, damit ich dem armen Mann da einen Blumenstrauß auf das Grab legen kann?". Sepp schüttelte den Kopf.

"Nein, tut mir leid. Wie gesagt, ich kannte ihn nicht und ich habe mit Ricarda auch nicht viel über ihn gesprochen", antwortete er flüssig und konnte sie dabei ohne Probleme anschauen. Okay, dann war das hier wohl wirklich kein Tatverdächtiger.

In den nächsten zwei Tagen ließ sie nichts unversucht, um an Beweismaterial zu kommen, doch leider war die Ausbeute nicht sehr groß. Entweder, die ganze Stadt hatte den Deckmantel des Schweigens über der Sache ausgebreitet oder die Bewohner waren schlicht zu brav.

 

Obwohl: Vielleicht hatte sie auch nur etwas übersehen? Was sonst nicht ihre Art war, aber sie wurde ja auch nicht jünger.

Deshalb gönnte sie sich zuerst einmal eine Pause, was oft besser war, wie sie aus Erfahrung wusste. Es konnte passieren, dass genau dann, wenn man nicht mehr immer an diese eine Sache dachte, irgendwann mit einem Plopp! die Lösung kam.

Außerdem hatte sie ja noch diesen Trumpf im Ärmel...

 

Von dem wusste aber wirklich niemand. Kein Mensch ahnte, was sie in den vielen Jahren der Einsamkeit alles erfunden hatte. Die Erfinderei war ein Hobby von ihr. Logisch denken konnte sie ja und außerdem machte die Sache unglaublich viel Spass. Dass sie dabei vor einiger Zeit aus Versehen eine richtige Zeitmaschine erfunden hatte, würde ihr ja doch niemand glauben.

 

Mit diesem Ding würde sie mal eine Reise in die Vergangenheit machen. Gut, einen Tag konnte sie nicht eingeben, das war in den Filmen ja immer so einfach. ´Und jetzt gib den Tag und die Uhrzeit ein und los geht es!`, so ein Schmarrn. Aber wer weiß? Vielleicht brachte sie die Maschine ganz aus Versehen zum 8. Dezember in die Rosenallee... ein Versuch war es auf jeden Fall wert!

Sie reiste viel in der Vergangenheit herum und wurde an den unterschiedlichsten Orten zu den unterschiedlichsten Zeiten ausgespuckt. Hier hatte sie ein Kleid einer richtigen Landgräfin aus dem 15. Jahrhundert geschenkt bekommen. War das nicht zauberhaft? Und das war mal wirklich lebendige Geschichte!

 

Gut, den Vorfall mit dem Tyrannosaurus hätte es nicht gebraucht. Diese Zähne würden sie wohl noch lange im Taum verfolgen...

Leider kam ihr einfach nicht die zündende Idee, den Mordfall Red betreffend. Wahrscheinlich fehlte nur noch ein klitzekleiner Hinweis, so dass es endlich klick machte. Sollte sie Relikt Red mal einen Besuch abstatten? Der Mann war immer noch unter den Top 5 der Tatverdächtigen.

Ein denkwürdiger Vorfall ereignete sich nur kurze Zeit später. Eine stadtbekannte Diebin hatte es auf ihre einfache Alm abgesehen! Stenopelix konnte es nicht glauben! Wieso machte sich jemand die Mühe, den weiten Weg hier heraufzuschnaufen für ein paar wenige, völlig abgenutzte Möbel?

Jedoch warf sie nicht das aus der Bahn, sondern die Tatsache, dass sie die Diebin nicht selbst gefangen nehmen konnte. Früher hätte sie das locker geschafft, sie konnte einige Kampfsportarten und hatte so manchen Kampf gewonnen.

 

Doch jetzt? Völlig hilflos musste sie mit ansehen, wie eine Polizistin zu Hilfe kam.

 

Das hämische Grinsen der Diebin ging ihr lange nicht aus dem Kopf.

Die junge Polizistin schaffte es dann, die Diebin gefangen zu nehmen, nachdem Stenopelix alles dafür getan hatte, die Kriminelle hier festzuhalten. Mehr hatte sie nicht machen können.

 

Dieser Vorfall beschäftigte sie lange, zeigte es ihr doch, dass sie nun wirklich langsam alt wurde. Bisher hatte sie sich noch wenig Gedanken um ihr Alter gemacht, weil sie sich einfach noch viel zu fit fühlte. Doch es würde weniger werden, das spürte sie.

 

Und wenn sie nicht mehr war, gäbe es keinen Erben für diese Alm samt dem Geheimversteck. Von dem niemand etwas wusste, das kam ja noch dazu. Sie hatte nie geheiratet, hielt Romantik für überflüssigen Firlefanz und wollte schon gar keinen Mann, den sie bedienen musste. Deshalb hatte sie auch nie einen Gedanken an Kinder verschwendet. Doch nun bereute sie dies schon fast. Was sollte nur mal aus ihrem Besitz werden?

Während sie sich Sushi gemacht hatte, und zwar in dem Kleid aus der Vergangenheit, weil das einfach zu schön war, um nur im nicht vorhandenen Schrank zu hängen, ratterte ihr Hirn wie immer. Und sie wäre eine schlechte Ermittlerin gewesen, wenn sie für dieses Problem keine Lösung gefunden hätte.

Die Lösung lag nahe und kam hier den Berg heraufgerannt.

 

Sie hatte einen Jungen adoptiert, der Jonathan hieß. Ein entzückendes Kerlchen mit strahlenden Augen, der nur leider schon sehr früh eine Waise geworden war.

 

Ihr Adoptionsantrag war schnell bearbeitet worden, schon aus Rücksicht auf ihr Alter. Hatte das also doch auch etwas Gutes. Nun musste sie nur solange durchhalten, bis Jonathan aus dem Gröbsten war, ihm möglichst viel von ihrem Wissen vermitteln und ihm natürlich alles über das Geheimversteck sagen.

Das erste, was er tat, als er in sein neues Heim kam, war zu schlafen. Stenopelix war sofort voller Mitleid mit dem armen Kind. Auch wenn sie ihm nicht viel bieten konnte und nicht viel Erfahrung mit Kindern hatte - woher auch? - , so würde sie schauen, dass es ihm bei ihr gut ging.

Nun war es wichtig, dass sie sich nach und nach besser kennenlernten. Er war ja nun immerhin ihr Sohn, auch wenn sie locker die Uroma hätte sein können.

 

Jonathan war wohl künstlerisch sehr begabt, denn er wollte wissen, ob es in Sommernachtsbucht eine Galerie gab. Als sie ihm sagte, dass es eine gab, wurden seine Augen groß vor Freude. Außerdem hörte sie heraus, dass er gerne arbeitete, was sie absolut erstaunlich fand. Hier hatte sie einen würdigen Nachfolger! Und außerdem lenkte sie die Erziehungsarbeit auch gut von diesem ominösen Mordfall ab, sonst würde sie doch noch einen Knoten im Hirn bekommen. Doch schon bald würde sie sich wieder auf die Jagd nach dem Mörder von The Simser machen.

 

Willkommen in der Nachbarschaft, kleiner Jonathan Steinalt!